Behörden

Gilt der Eigenmietwert auch, wenn ich mich damit verschulde?

Ja, wie das Bundesgericht am 4. August 2022 entschieden hat. Es hat die Härtefallklausel des Kantons Tessin als bundesrechtswidrig qualifiziert.

Der Eigenmietwert ist ein fiktives und steuerbares Einkommen, welches der Gleichbehandlung von Liegenschaftseigentümerinnen und Mietern dient. Er muss in jedem Einzelfall mindestens 60% der Marktmiete betragen.

Tessiner Härtefallregelung

Hat eine Liegenschaftseigentümerin ein steuerbares Vermögen von unter 500 000 CHF, beträgt der Eigenmietwert gemäss dem revidierten Tessiner Steuergesetz höchstens 30% des Nettoeinkommens. Die Regelung soll verhindern, dass sich Hauseigentümerinnen verschulden, um die aufgrund des Eigenmietwerts höheren Einkommenssteuern zahlen zu können. (Siehe auch: «Schliesst mich Immobilieneigentum in jedem Fall von der Sozialhilfe aus?»)

Zwei Mitglieder des Grossen Rates legen gegen diese Bestimmung beim Bundesgericht Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten ein. Die Regelung verletze das verfassungsrechtliche Gleichheitsverbot, indem sie Mieter gegenüber Eigentümerinnen diskriminierte. Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.

Eigenmietwert soll Gleichbehandlung gewährleisten

Im Steuerbereich konkretisiert die Verfassung den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz, indem sie die Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit verlangt.

Das Einkommen von Mietern verringert sich um die Mietzahlungen. Anders als die Eigentümerinnen können sie aber keine Hypothekarschulden oder Instandhaltungskosten von ihrem steuerbaren Einkommen abziehen. Um die Gleichbehandlung zu gewährleisten, ist der Eigenmietwert sowohl bei der direkten Bundessteuer als auch bei den kantonalen Steuern als fiktives Einkommen zu versteuern.

Einkommen hat keinen Einfluss auf Eigenmietwert

Basis des Eigenmietwerts ist der Betrag, den die Eigentümerin bezahlen müsste, würde sie ihre Liegenschaft auf dem freien Markt mieten. Die tatsächliche Höhe dieses steuerbaren fiktiven Einkommens hängt von den ortsüblichen Verhältnissen und der tatsächlichen Nutzung der am Wohnsitz selbstbewohnten Liegenschaft ab.

Die angefochtene kantonale Regelung sieht vor, dass bei einem Vermögen von unter 500 000 CHF der Eigenmietwert zu höchstens 30% des Nettoeinkommen versteuert werden kann. Gemäss der Rechtsprechung zum verfassungsrechtlich verankerten Gleichbehandlungsgrundsatz hat sich jedoch die Höhe des Eigenmietwertes an der Marktmiete zu orientieren, eine Koppelung an das Einkommen ist nicht zulässig.

Eigenmietwert muss bei mindestens 60% der Marktmiete liegen

Wenn die Kantone auch einen gewissen Spielraum haben, so hält die Rechtsprechung für die kantonalen Steuern doch fest, dass der Eigenmietwert bei mindestens 60% der Marktmiete liegen muss. Das Bundesgericht qualifizierte kantonale Regelungen, wonach der durchschnittliche Eigenmietwert bei 60% liegen müsse, als verfassungswidrig. Das gleiche Schicksal ereilte ein kantonales Gesetz, welches einen Eigenmietwert von unter 60% festlegte bei gleichzeitiger Gewährung von Abzugsmöglichkeiten für Mieter.

Die 60%-Regel gilt also absolut und für jeden Einzelfall. Zusätzliche Reduktionen sind auch dann nicht erlaubt, wenn ein Kanton verhindern will, dass sich Liegenschaftseigentümerinnen zwecks Bezahlung der Steuern verschulden müssen. Das Bundesgericht erinnert daran, dass der amtliche Wert einer Liegenschaft im Kanton Tessin bei 44% des Marktwertes liegt. Da die angefochtene Regelung für Liegenschaftseigentümerinnen mit einem Vermögen von unter 500 000 CHF anwendbar ist, kann entsprechend eine Eigentümerin einer Liegenschaft mit einem Marktwert von 1.2 Mio. CHF als «Härtefall» gelten. Von der angefochtenen Regelung würden rund 3 800 Liegenschaftseigentümerinnen profitieren.

Das Bundesgericht hebt eine kantonale Bestimmung nur dann auf, wenn keine verfassungskonforme Auslegung möglich ist. Im vorliegenden Fall ist eine solche Auslegung nicht möglich. Das Bundesgericht erklärt den angefochtenen Artikel des Tessiner Steuergesetzes für nichtig und überwälzt dem Kanton Tessin die Gerichtskosten in der Höhe von 2 000 CHF.